Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Was Konfuzius seinem Schüler Yan Yuan zur bewussten Ausblendung alles Schlechten und Unschönen empfohlen haben soll, scheint auch in der deutschen Gesundheitspolitik immer wieder die Methode der Wahl zu sein. Wie sonst ließe sich erklären, dass Verantwortliche jahrelang Kritik und auch Hilferufe von praktizierenden Ärzten ausgeblendet haben, während sie emsig daran arbeiteten, immer neue Regeln und Vorschriften für den Praxisbetrieb zu erdenken und durchzusetzen? So entstand im Laufe der Zeit eine gewaltige Kontrollbürokratie, die mitverantwortlich ist für die heutige Misere der hausärztlichen Versorgung.

Öffnen wir die Augen und schauen, zum Beispiel, nach Nordrhein-Westfalen: Im bevölkerungsreichsten Land der Bundesrepublik Deutschland gibt es laut Gesundheitsministerium in Düsseldorf noch 11.200 niedergelassene Hausärztinnen und Hausärzte. Das klingt vergleichsweise gut. Doch denselben Angaben zufolge haben mehr als ein Drittel von ihnen das 60. Lebensjahr überschritten. In einer Modellrechnung geht die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein von einer mittleren dreistelligen Zahl an Hausärzten aus, die bis zum Jahr 2030 ersetzt werden muss.

Hunderte Praxen werden schließen

Auch in anderen Bundesländern sind solche Warnungen nicht zu überhören - es sei denn, man hält sich die Ohren zu. Die Prognose, dass in den nächsten Jahren deutschlandweit hunderte Praxen mangels Ärztenachwuchs schließen werden, liegt nahe. Ebenso die Vorhersage, dass ländliche Regionen deutlich stärker vom Praxissterben betroffen sein werden als die Städte.

Für SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach sind das keine Geheimnisse. Ihm dürfte auch klar sein, was das Praxissterben für die vielen betroffenen Patienten bedeutet, welche Sorgen und Ängste diese Entwicklung bei vielen Menschen in unserem Land auslöst.

Die Ursachen der Misere liegen auf der Hand. Eine besteht darin, dass viele angehende Mediziner - anders als in früheren Jahren - eine eigene Praxis nicht mehr für erstrebenswert halten. So manchen Studenten ist die viel zitierte Work-Life-Balance wichtiger. Dafür ist ein Angestelltenverhältnis in ihren Augen besser geeignet.

Hausärztliche Arbeit ist harte Arbeit, die sich längst nicht auf die veröffentlichten Sprechzeiten beschränkt. Schon gar nicht auf dem Lande. Weil niemand zwangsverpflichtet werden kann, bleibt nur der Weg über Anreize und die Gewährleistung vernünftiger, möglichst auch attraktiver Rahmenbedingungen.

Zudem sollte das Medizinstudium stärker auf den hausärztlichen Bereich ausgerichtet werden. Ein gutes Beispiel dafür ist das Hausarztaktionsprogramm, mit dem NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) dazu beitragen will, die Versorgung insbesondere im ländlichen Raum zu verbessern. Im Rahmen dieses Programms fördert das Land die Niederlassung von Medizinerinnen und Medizinern mit bis zu 60.000 Euro.

Abbau der enormen Bürokratie notwendig

Auch auf kommunaler Ebene gibt es Unterstützung für den Schritt in die Selbstständigkeit. Was Kommunen und Länder aber nicht leisten können, sondern vom Bundesgesundheitsministerium eingefordert werden muss, ist der Abbau der enormen Bürokratie, die den Arztpraxen aufgebürdet wurde. Viele meiner niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen klagen, dass der ihnen aufgezwungene Verwaltungsaufwand immer mehr Zeit und Kraft „frisst“ - und zwar zu Lasten der medizinischen Versorgung der Patienten.

Für viele Ärzte ist das frustrierend. Schließlich haben sie Medizin studiert, um kranken Menschen zu helfen, und nicht um zum Sklaven von mittlerweile krankhaft anmutenden Auflagen und Vorschriften zu werden. Medizinberufe sind Sozialberufe. Menschen, die diese Berufe ausüben, sind keine „breitschultrigen“ Unternehmer, die rein betriebswirtschaftlich vorgehen, sondern eher Menschen, die emotional dabei sind, die mitfühlend sind, die sich um ihre Patienten so gut wie möglich kümmern wollen. Je mehr man ihnen das vergrault, desto weniger Mediziner werden sich entschließen, diese Arbeit eigenverantwortlich zu leisten.

Mittlerweile scheint auch Karl Lauterbach erkannt zu haben, dass es höchste Zeit ist, aus dem Corona-Aktionismus auszusteigen und sich stärker der Behebung langjähriger Fehlentwicklungen zu widmen. Kürzlich hat er die Bundesländer aufgerufen, rasch mehr Studienplätze für Humanmedizin zu schaffen. Wenn man die Zahl nicht um 5.000 erhöhe, werde man die Babyboomer-Generation in naher Zukunft nicht mehr angemessen versorgen können, so Lauterbach in der „Bild am Sonntag“.

Mehr Mediziner als Lösung?

Immer mehr Studenten an den medizinischen Fakultäten - der Ruf danach erscheint zwar verständlich, aber man sollte auch nicht die Warnungen vor einer Verwässerung der Qualität in der Lehre überhören. Sie droht, wenn den Fakultäten abverlangt wird, die Ausbildung ohne zusätzliche personelle und materielle Kapazitäten zu leisten. Weil das Medizinstudium für die Länder ohnehin schon sehr teuer ist, stellt sich die Frage, wie die Aufstockung von Medizinstudienplätzen bei Gewährleistung einer hohen Qualität finanziert werden soll. Ohne kräftige Zuschüsse des Bundes wird das für so manches Land kaum zu leisten sein.

Aber wäre die Ausbildung von immer mehr Medizinern überhaupt der Königsweg? Zweifel sind angebracht. Denn interessanterweise ist die Anzahl der berufstätigen Ärzte in Deutschland seit der Wiedervereinigung um mehr als zwei Drittel gestiegen. Dennoch wird allenthalben über einen Ärztemangel geklagt. Ich glaube nicht, dass wir in Deutschland insgesamt zu wenige Mediziner haben. Allerdings sehen sich Ärzte nur allzu oft gezwungen, sehr viel Zeit und Energie dem Dokumentieren, dem Aktenordnen, der Berichterstattung sowie der Kommunikation mit Behörden zu widmen. Und zwar zu Lasten der Patientenversorgung.

Ursache des längst unvertretbar hohen Bürokratieanteils an der Arbeit der Praxen und Kliniken ist zum Teil eine bedauerliche Kultur des Misstrauens der Ärzteschaft gegenüber. Wenn man die Probleme in der Gesundheitsversorgung ernsthaft bekämpfen will, muss man sich überlegen, welche Verwaltungsbelastungen wegfallen können, damit wieder mehr Raum für die eigentlichen Aufgaben bleibt, für die Versorgung von Patienten auf hohem medizinischen Niveau. Stattdessen scheint man im Bundesgesundheitsministerium ständig über neue Gesetze, Verordnungen und Vorschriften nachzudenken.

Fehlentwicklungen, wie sie die ärztliche Versorgung erschweren, ja behindern, ähneln jenen im Wohnungsbau: Die Anforderungen werden ständig nach oben geschraubt, die Zahl der Auflagen nimmt immer weiter zu. So steigen die Baukosten und der Finanzierungsaufwand. Gleichzeitig kommt die Politik mit einem Mietendeckel. Und dann wundert man sich, wieso kaum noch Wohnungen gebaut werden. Die Lösung besteht nicht darin, dass wir noch mehr Architekten, Ingenieure und Bauarbeiter ausbilden, sondern darin, dass die Last aus bürokratischen Vorschriften, Auflagen und Preisvorgaben verringert wird. Genauso sieht es auch in der Medizin aus.

Effektive medizinische Versorgung gewährleisten

Richtig ist, dass die Digitalisierung helfen kann, den Bürokratieaufwand effektiver zu bewältigen. Aber nur wenn sie klug gehandhabt und passgenau auf die Bedürfnisse der Praxen und Kliniken zugeschnitten wird. Dann können bewährte und funktionierende analoge Prozesse durch digitale ersetzt werden, um Zeit und Energie zu sparen. Doch bislang gleicht die Digitalisierung im Gesundheitswesen hierzulande meist noch einem Trauerspiel - statt Abläufe zu verschlanken oder zu ersetzen, werden Prozesse nicht selten weiter aufgebläht und verkompliziert.

Um den Hausärztemangel zu beheben und eine effektive medizinische Versorgung auf hohem Niveau zu gewährleisten, sind tragfähige und nachhaltige Lösungen erforderlich. Deutschland braucht einen umfassenden, realistischen und ausreichend finanzierten Hausärzte-Aktionsplan. Nicht mehr und nicht weniger ist die Regierungskoalition, sind Bund und Länder der Bevölkerung schuldig.