Eine Revolution soll es also sein. Darunter macht Karl Lauterbach es nicht. Ein Schelm, wer nun vermutet, der Sozialdemokrat habe dabei an seinen Vornamensvetter Karl Marx (1818-1883) gedacht. Der schrieb einst über die Klassenkämpfe in Frankreich: „Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte“. Dass Lauterbach gern in Letztere eingehen möchte als der Politiker, der das deutsche Gesundheitswesen fast im Alleingang revolutioniert hat, pfeifen die Spatzen vom Dach seines Ministeriums.

Der Herr des Hauses sei zutiefst von seinen eigenen Vorstellungen überzeugt. Davon abweichende Überlegungen oder Vorschläge von Interessenvertretern seien unerwünscht. Ist dieser Minister beratungsresistent? Das ließe nichts Gutes ahnen für die anstehenden Abstimmungsrunden zur von Lauterbach angeschobenen Reform der Krankenhausfinanzierung.

Über vielen Kliniken kreist der Pleitegeier

Viele Krankenhäuser sind unterfinanziert und akut von Pleiten bedroht. Eine Reihe von Häusern wurde bereits geschlossen, andere ringen hart darum, einen Konkurs abzuwenden. Verschärft hat sich die Lage der Kliniken durch die enormen finanziellen Mehrbelastungen, die sich als Folgen der Corona-Krise und der hohe Inflation ergaben, insbesondere bei den Energiepreisen. Hinzu kommt, dass viele unserer Häuser im internationalen Vergleich als betriebswirtschaftlich ineffektiv gelten. Ein Grund dafür ist, dass Aufwand und Nutzen - man könnte auch sagen Leistung und Vergütung – in keinem ausgewogenen Verhältnis stehen.

Wer über zu hohe Gesamtkosten unseres Gesundheitswesens klagt, sollte nicht übersehen, dass der Grund dafür meist nicht der Preis für die einzelnen medizinischen Leistungen ist. Verglichen mit den USA, der Schweiz, oder anderen westlichen Ländern, werden sie in Deutschland nämlich keineswegs sonderlich hoch vergütet. Problematisch ist, dass der Umfang des Leistungsangebots für die Versicherten (einschließlich eigentlich versicherungsfremder Leistungen) im internationalen Vergleich immens ist. Zugleich ist der Zugang zu unserem System nahezu uneingeschränkt; die Selbstbeteiligung der Patienten befindet sich auf extrem niedrigem Niveau.

Lauterbach will Geister loswerden, die er selbst rief

Den Menschen wird eine für sie günstige Rundum-Sorglos-Versorgung versprochen, während Eigenverantwortung oftmals ausgeblendet ist. Und dass unser Staat meint, alles bis ins Kleinste regeln zu müssen, erweist sich auch immer mehr als Kostentreiber. Das Sozialgesetzbuch verspricht eine Betreuung von der Wiege bis zur Bahre, bis hin zur Stützstrumpfgröße ist alles durchgeregelt beziehungsweise vorgeschrieben.

So wird insgesamt ein Nachfrageverhalten gefördert, das hohe Kosten verursacht. Zugleich sind Leistungserbringer im Gesundheitswesen aufgrund teils niedriger Vergütung angehalten, mit hoher Quantität zu „produzieren“. Lauterbach hat für dieses System seinerzeit als SPD-Gesundheitspolitiker durch das Drängen auf die Fallpauschalen die Weichen gestellt. Die Geister, die er rief, will er nun mit aller Macht austreiben. Er wird damit wohl neue Kollateralschäden schaffen, was ihm dem Anschein nach egal ist.

Sind Lauterbachs Ideen praxistauglich?

Unbestritten ist allerdings, dass unsere Krankenhausstruktur nicht mehr zeitgemäß und nicht mehr so finanzierbar ist wie bisher. An der Notwendigkeit, es zu reformieren und zu modernisieren, zweifelt daher kaum jemand. Aber können Lauterbachs Ideen die angestauten Probleme wirklich lösen? Sind die Vorschläge der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung, die der Minister mit handverlesenen Persönlichkeiten bestückt hatte, praxistauglich?

Wer erwartet hatte, dass das Gesundheitsministerium dieser Frage nachgeht und bei unabhängigen Gutachtern eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gibt, wurde enttäuscht. Reformen ohne Reality-Check? Das wollten die Krankenhausträger verständlicherweise nicht hinnehmen. Inzwischen liegt ein simulierter Praxistest vor.

Erarbeitet wurde diese Analyse vom Institute for Health Care Business in Kooperation mit der auf Medizindaten spezialisierten Vebeto GmbH. Auftraggeber war die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) – die bundesweite Interessenvertretung der Krankenhausträger, die Karl Lauterbach freilich gern als reinen Lobbyverein darstellt und wohlweislich von der Mitarbeit an seiner Reformkommission ausgeschlossen hatte.

Gravierende Folgen überall im Land

Das unbequeme Ergebnis: Hunderte Krankenhäuser würden im Zuge der Lauterbach-Revolution herabgestuft werden - viele praktisch auf das Niveau von Landambulanzen, die noch gerade so eine Erstversorgung leisten könnten, aber keine medizinische Betreuung rund um die Uhr mehr bieten würden. Hunderte andere Häuser würden im Zuge von radikalen Standortfusionen oder Konkursen von der Krankenhauslandkarte verschwinden.

Auf die Patienten kämen gravierende Folgen zu: So müssten zum Beispiel mehr als 50 Prozent aller werdenden Mütter der Analyse zufolge einen neuen Standort für die Geburt suchen. 56 Prozent der Patientinnen und Patienten in der interventionellen Kardiologie müssten in andere, teils erheblich weiter entfernte Krankenhäuser wechseln. In der Urologie wären es 47 und in der Neurologie 39 Prozent.

Ähnlich schwerwiegend wären die Folgen für andere Leistungsgruppen. Zahlreiche Kliniken würden ihren bisherigen Auftrag zur Patientenversorgung verlieren oder müssten völlig umgestaltet werden. Zudem wären durch strukturelle Vorgaben aus Berlin den Gestaltungsmöglichkeiten der eigentlich für die Krankenhausplanung zuständigen Ländern engere Grenzen gesetzt. Das klingt tatsächlich weniger nach Reform als nach Revolution. Und zwar nach einer, die an Georg Büchners (1813-1837) „Dantons Tod“ denken lässt: „Ich weiß wohl, die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder.“

Der Holzhammer darf nicht das Instrument der Wahl sein

Wie gesagt: Um tiefgreifende Reformen kommen wir nicht herum. Aber Der Holzhammer darf aber nicht das Instrument der Wahl sein. Die DKG hat auf der Grundlage der von ihr in Auftrag gegebenen Machbarkeitsstudie ein eigenes Reformkonzept erarbeitet. Bei den weiteren Beratungen zwischen Bund und Ländern sowie mit den verschiedenen Interessenvertretungen, auch den Gewerkschaften, über die künftige Krankenhausstruktur sollte es Beachtung finden. Auch wenn das bedeutet, dass der Gesundheitsminister dafür über seinen Schatten springen muss.

Die Krankenhausträger sehen durchaus, dass die angedachte Einführung von Vorhaltepauschalen, eine Verschiebung von stationärer zu klinisch-ambulanter Patientenbehandlung und die Entwicklung Medizinisch-Pflegerischer Versorgungszentren in Verbindung mit bundeseinheitlichen Leistungsgruppen, „eine realistische Perspektive zur bedarfsgerechten Umwandlung, Fusion und Weiterentwicklung von Krankenhausstandorten“ bietet. Veränderungsbereitschaft sei vorhanden, erklärte der DKG-Vorstandsvorsitzende Gerald Gaß.

Der Umbau, der in vielen Regionen eine Reduzierung der Anzahl der Krankenhausstandorte mit sich bringen werde, müsse aber so gestaltet werden, „dass er bei den Bürgerinnen und Bürgern keine Ängste hervorruft, sondern in einem konstruktiven Miteinander von Politik, Krankenhausträgern und Krankenkassen die Chancen der Veränderung aufzeigt“.

Nordrhein-Westfalen weist den Weg

Eine Straffung der Strukturen nach dem Motto „Nicht jeder macht alles“ ist sinnvoll. Klar ist aber auch, dass ohne die Länder gar nichts geht, denn Krankenhausplanung wird Ländersache bleiben, auch wenn das dem Gesundheitsminister nicht gefallen mag. Als Beispiel für eine Reform mit Augenmaß gilt Nordrhein-Westfalen. Während Lauterbachs Vorhaben bis jetzt nur auf dem Papier und in Diskussionsrunden existieren, macht CDU-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann in NRW Nägel mit Köpfen.

Bei der dortigen Strukturreform werden die unterschiedlichen Gegebenheiten in den jeweiligen Regionen - Faktoren wie die demographische Entwicklung und die Bevölkerungsdichte - genau analysiert und weitgehend berücksichtigt. Größere planbare Operationen werden mehr und mehr auf spezialisierte Zentren konzentriert, wie es auch die Vorschläge der von Lauterbach eingesetzten Kommission vorsehen. Zugleich aber pocht Laumann darauf, dass die medizinische Grundversorgung - etwa die Behandlung von Herzinfarkten oder Schlaganfällen – weiterhin auch ortsnah vorgehalten werden muss.

Medizin ohne Ökonomie – kann das funktionieren?

Lauterbachs großes Schlagwort lautet Entökonomisierung. „Wir haben es mit der Ökonomisierung der Medizin übertrieben. Das müssen wir zurückdrehen“, erklärte er. Das System der Fallpauschalen habe „die Krankenhäuser zu stark ökonomischen Zwängen ausgesetzt“, heißt es nun. Es soll weitgehend abgeschafft und zum großen Teil durch sogenannte Vorhaltepauschalen ersetzt werden.

Funktionieren könnte das sicher für sehr große Häuser wie Universitätskliniken und Spezialkliniken, die neben den Vorhaltepauschalen weiterhin viel Geld mit Fallpauschalen für umfangreiche Operationen verdienen. Für viele andere könnte sich das aber als Mogelpackung erweisen: Vorhaltepauschalen für allgemeine Betriebskosten würden ja nur einen Teil der Einnahmen eines Krankenhauses abdecken. Der wirtschaftliche Druck auf Häuser am unteren Ende der angedachten künftigen Klinikstruktur dürfte erheblich steigen, weil ihnen Einnahmen aus Fallpauschalen für Behandlungen wegbrechen, die sie dann nicht mehr anbieten dürften.

Träume vom sozialistischen Paradies

Wie immer das Verhältnis von Vorhalte- und Fallpauschalen am Ende gestaltet wird, sicher ist: Eine Entkoppelung von Kosten und Therapie nach dem Motto „Der Menschen steht im Mittelpunkt, Geld spielt keine Rolle“ in Aussicht zu stellen, ist purer Populismus. Wenn unser Gesundheitswesen bezahlbar bleiben und sich im Zuge des medizinischen Fortschritts weiterentwickeln soll, muss dort auch Geld verdient werden können. Alles andere sind Träume von einem sozialistischen Paradies. Die Geschichte lehrt, dass es immer schief geht, wenn versucht wird, die Ökonomie abzuschaffen oder zu ignorieren. Wir müssen nun mal alle haushalten. Und zwar gerade im Gesundheitswesen, wenn wir es weiterhin für alle sozialen Schichten zugänglich und bezahlbar machen wollen.

Eine Medizin, bei der betriebswirtschaftliche Aspekte keine Rolle spielen, ist eine Fata Morgana. Es sei denn, man verstaatlicht das gesamte Gesundheitswesen und entbindet es per Gesetz von finanziellen Zwängen und Erwägungen. Für Deutschland als Wirtschaftsstandort wäre das verheerend. Denn für die Finanzierung eines solchen Systems müssten entweder die Steuern oder die Lohnnebenkosten oder beides massiv erhöht werden. Die Exportnation Deutschland wäre früher oder später nicht mehr in der Lage, im internationalen Wettbewerb mitzuhalten.

Staatsmedizin führt zur Kostenexplosion

Großbritanniens Sorgen mit seinem steuerfinanzierten Nationalen Gesundheitsdienst NHS sollten allen eine Warnung sein: Die Kosten explodieren, die medizinische Versorgung wird immer schlechter. Patienten warten monatelang auf Routine-Operationen. Ausnahmen gibt es für jene, die sich es sich leisten können, aus eigener Tasche private Zusatzversicherungen zu bezahlen. Mit sozialer Gerechtigkeit hat das nichts mehr zu tun. Aber das ist der Weg, auf den uns die sogenannte Entökonomisierung der Medizin führen würde.

Hinzu kommt: Wer die Krankenhausstruktur umbauen will, der muss auch klipp und klar sagen, woher das Geld dafür kommt und wie viel zur Verfügung stehen wird. Denn klar ist doch, dass für einen Strukturwandel, wie immer er konkret ausfallen mag, umfangreiche Mittel erforderlich sein werden. Wo Krankenhäuser fusioniert werden, fallen Umbau- und Modernisierungskosten an. Häuser, die geschlossen werden, kann man nicht einfach dem Verfall überlassen. Für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nicht umziehen wollen oder können, fallen in der Summe hohe Entschädigungen an. Und vieles mehr. Experten gehen davon aus, dass die angedachten Strukturveränderungen alles in allem rund 100 Milliarden Euro kosten könnten.

Wer soll das bezahlen?

Lauterbach aber will über die Kosten noch nicht reden. Der Grund ist augenscheinlich: FDP-Finanzminister Christian Lindner hält sich die Taschen zu. Und wenn Karl Lauterbach anruft, wohl auch die Ohren. Bis jetzt gibt es jedenfalls keine Anzeichen dafür, dass Linder bereit ist, ein weiteres „Sondervermögen“ – sprich eine noch höhere Verschuldung des Staates – zu ermöglichen, um die Revolution des SPD-Gesundheitsministers zu finanzieren.

Es ist ja noch nicht einmal klar, wie die Ampel-Regierung mittel- und längerfristig auf das wachsende Defizit der Krankenhäuser zu reagieren gedenkt. Laut DKG häufen die deutschen Kliniken infolge der Inflationskrise jeden Monat 740 Millionen Euro zusätzliches Defizit an, bis Ende März war das entsprechende Gesamtdefizit bereits auf 8,95 Milliarden Euro gewachsen. Mehr als 90 Prozent der Kliniken können den Angaben zufolge ihre Ausgaben nicht mehr aus den laufenden Einnahmen finanzieren. Ein Grund ist, dass Krankenhäuser steigende Preise nicht wie andere Branchen an ihre „Kunden“ weitergeben können.

Erst Revolution, dann Diktat

Wie es aussieht, stolpert unser Gesundheitswesen mit Lauterbach immer tiefer ins Chaos. Dass das so gewollt ist, unterstellt dem zuständigen Minister sicher niemand. Aber vielleicht wird es Zeit, sich an den russischen Revolutionär und Anarchisten Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814-1876) zu erinnern: „Man setze den aufrechtesten Revolutionär auf einen Thron, und er wird zum schlimmsten Diktator.“ Eine ähnlich hilfreiche Warnung hat uns der Begründer der Vergleichenden Politikwissenschaft hinterlassen, der französische Politiker und Historiker Alexis de Tocqueville (1805–1859): „Jede gelungene Revolution führt zu einer Stärkung der staatlichen Macht.“