Wilhelm Busch hat das Problem einst auf seine volkstümlich-humoristische Art auf den Punkt gebracht: „Wer durch des Argwohns Brille schaut, sieht Raupen selbst im Sauerkraut.“ Argwohn und Verdächtigungen statt Vertrauen und Wohlwollen – das ist es, was Ärztinnen und Ärzte in unserem Land nur allzu oft vonseiten der Politik, der Behörden und Krankenkassen erfahren. Seinen Ausdruck findet das in einem institutionalisierten Regulierungs- und Kontrollwahn. Anstatt die Ärztinnen und Ärzte in den Kliniken und Praxen zu entlasten, hält man sie durch immer neue Dokumentationsanforderungen zur Erfüllung von Vorgaben zur Leistungsabrechnung und zur externen Qualitätssicherung immer stärker von ihrer wichtigsten und alles überragenden Aufgabe ab – der hingebungsvollen medizinischen Versorgung ihrer Patienten.

Wahnsinn in Zahlen: Drei Stunden Bürokratie pro Arbeitstag

Haben wir in Deutschland wirklich zu wenig Ärzte, wie allenthalben geklagt wird? Wer sich die letzte Umfrage des Marburger Bundes zur Belastung durch bürokratische Vorgaben anschaut, könnte zu dem Schluss kommen, dass wir nur zu wenig Ärzte haben, die sich noch ausreichend Zeit für die Patienten nehmen können. Den Antworten von 8.500 angestellten Ärztinnen und Ärzten zufolge beträgt der Zeitaufwand für Verwaltungstätigkeiten – darunter die Datenerfassung und Dokumentation gemäß leistungs- oder haftungsrechtlichen Vorgaben – „im Mittel drei Stunden pro Tag“. Bei manchen sind es sogar 4 Stunden. Wie stark die Dokumentationsschraube in den vergangenen Jahren angezogen wurde, zeigt der Vergleich mit früheren Umfragen der Ärztegewerkschaft: 2013 lag der Anteil derjenigen Mediziner, die täglich mehr als drei Stunden mit Verwaltung und Dokumentation befasst sind, noch bei 8 Prozent. Heute sind es 32 Prozent. Durchaus ähnlich stellt sich die Lage bei der niedergelassenen Ärzteschaft dar. Das ist schlicht und einfach ein Skandal.

Ärztemangel durch Bürokratieabbau begegnen

Es versteht sich eigentlich von selbst: Besonders in Zeiten des Mangels an medizinischen und pflegerischen Fachkräften könnte die Reduzierung bürokratischer Lasten zusätzliche personelle Kapazitäten für die Patientenversorgung freisetzen. Der Marburger Bund machte diese Rechnung auf: „Allein die Halbierung des durchschnittlichen Zeitaufwandes von drei Stunden pro Tag würde dazu führen, dass die Arbeitskraft von rund 32.000 vollzeitbeschäftigten Ärztinnen und Ärzten im Krankenhaus mehr zur Verfügung stünde.“ Auch im ambulanten Bereich und in der Pflege ließen sich ähnliche Effekte erzielen.

Ampelkoalition steht in der Pflicht

Dass die wuchernde Bürokratitis die Funktionstüchtigkeit unser Gesundheitswesens stark beeinträchtigt, hat die Bundesregierung angeblich erkannt. Im Koalitionsvertrag haben sich SPD, Grüne und FDP jedenfalls vorgenommen, zu überprüfen, inwieweit Dokumentationspflichten angesichts des technischen Fortschritts überholt sein könnten. „Durch ein Bürokratieabbaupaket bauen wir Hürden für eine gute Versorgung der Patientinnen und Patienten ab“, heißt es im Ampelvertrag. Allzu viel Zeit bleibt Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) für die Erfüllung dieses Versprechens nicht mehr: Laut § 220 Absatz 4 des Sozialgesetzbuches (Fünftes Buch) soll das Bundesministerium für Gesundheit Empfehlungen zum Bürokratieabbau im Gesundheitswesen „bis zum 30. September 2023“ erarbeiten.

Wird Lauterbach liefern?

Doch Papier ist bekanntlich geduldig. Das gilt auch für den Koalitionsvertrag. Mithin stellt sich die Frage: Wird Lauterbach liefern? Wird der Sozialdemokrat, der seit Wochen in Grabenkämpfe um seine offenkundig unausgewogene Krankenhausreform verstrickt ist, bis zum Herbst ernstgemeinte und praktikable Maßnahmen zur Bürokratitis-Bekämpfung im Gesundheitswesen vorlegen? Dass es daran Zweifel gibt, haben viele Teilnehmer des 127. Deutschen Ärztetages deutlich gemacht, der vom 16. bis 19. Mai in Essen tagte. „Freiheit und Verantwortung in der ärztlichen Profession“ war ein Hauptthemen des diesjährigen Treffens der Vertreter von 550.000 Ärztinnen und Ärzten. Es ging dabei um nicht weniger als die Therapiefreiheit, also als das Recht von Medizinern, eigenverantwortlich nach den Regeln der ärztlichen Kunst über die jeweils anzuwendende Behandlungsmethode zu entscheiden. Wie sehr das inzwischen erreichte Ausmaß der Bürokratisierung der ärztlichen Profession diese Freiheit beschneidet und dass sich daraus sogar ernsthafte verfassungsrechtliche Bedenken ergeben, hat der frühere CDU-Ministerpräsident des Saarlands, Peter Müller, ebenso eindrucksvoll wie schlüssig dargelegt.

Verfassungsrechtliche Bedenken

Wenn Krankenhaus-Ärzte täglich im Schnitt mehr als drei Stunden für die Bürokratie aufwenden müssten und es im niedergelassenen Bereich kaum anders sei, dann führe das dazu, dass der Kern der freiberuflichen Tätigkeit – Hinwendung, Betreuung und Therapie des Patienten – darunter leide, erklärte Müller, der seit 2011 Richter am Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts ist.

„Das Ende dieser Regulierungswütigkeit ist doch, dass denjenigen, die geschützt werden sollen, den Patientinnen und Patienten, nicht genutzt, sondern geschadet wird“, lautete Müllers Resümee. Daraus ergebe sich die Frage, ob es nicht verfassungsrechtliche Grenzen für die Regulierung dieses Bereichs des Gesundheitswesens gebe.

Der Gesundheitsminister gehört zum Lager Argwohn

Dass mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach ausgerechnet ein Arzt - ein Kollege also, der unseren Beruf und unser Berufsethos eigentlich gut kennen sollte – offenkundig zum Lager Argwohn gehört, ist alles anderes als hilfreich. Mehrfach hat er bewährte Partner und Träger der in Deutschland gesetzlich garantierten Selbstverwaltung des Gesundheitswesens wie die Bundesärztekammer oder die Kassenärztliche Vereinigung in die Ecke von Lobbyverbänden gestellt. Obwohl ihre Mitglieder über umfangreiche praktische Erfahrungen verfügen und Missstände des deutschen Gesundheitswesens aus der täglichen Praxis nur allzu genau kennen und erleiden, sträubt sich dieser Minister gegen ihre Einbeziehung in gesundheitspolitische Reformvorhaben. Das gilt nicht nur für die Ärzteschaft. Auch wichtige Erfahrungen, Vorschläge und Forderungen von Praktikern im Bereich der Pflege sowie von Vertretern anderer freier Berufe im Gesundheitswesen scheinen bei Lauterbach immer wieder auf taube Ohren zu stoßen.

Lobbyismus-Vorwurf empört Ärzteschaft

Seine mittlerweile höchst umstrittene Krankenhausreform hat er bewusst von einem Gremium entwerfen lassen, dem vor allem handverlesene Wissenschaftler angehörten, von denen er erwarten konnte, dass sie seine Ansichten weitgehend teilen. Standesvertreter, die den täglichen Krankenhaus- und Praxisbetrieb bestens kennen, blieben weitgehend außen vor. Sie einzubeziehen, wäre – laut Lauterbach „auf den üblichen Lobbyistenkrieg hinausgelaufen“, wie er der Wochenzeitung „Die Zeit“ sagte. Die Antwort von Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, auf dem Ärztetag in Essen war klar und deutlich: Das Engagement der Medizinerinnen und Mediziner für ein besseres Gesundheitswesen nicht nur zu ignorieren, sondern auch noch zu diskreditieren, sei ein „schwerer politischer Fehler“. Die Frage ist natürlich, wie viele derartige Fehler der Bundeskanzler seinem Gesundheitsminister noch durchgehen lassen will. Hier sollte der Rat aus Johann Wolfgang von Goethes Stück „Die Mitschuldigen“ (1769) gelten: „Wer selbst misstrauisch ist, verdient kein Vertrauen.“

Wolkenkuckucksheim ist nicht der Ort für Problemlösungen

Die Einbeziehung derjenigen, die an den verschiedensten Fronten der Gesundheitsversorgung trotz aller bürokratischen Hürden tagtäglich Verantwortung übernehmen, wird von dem Minister offensichtlich nur als störend empfunden. Viel netter und schöner ist es doch, sich in Wolkenkuckucksheim das Modell eines Gesundheitssystems zu basteln, mit dem sich trefflich von einer besseren, vermutlich sozialistischen, Welt träumen lässt. So, wie sich Kinder ihre Träume aus bunten Lego-Steinen basteln. Derweil bleiben reale Probleme unseres Gesundheitswesens ungelöst - und türmen sich auf: Vom Fachkräftemangel über die Krise der Krankenhausfinanzierung, die jährlich wachsenden Milliardendefizite der Gesetzlichen Krankenversicherung, die längst überfällige Reform der Gebührenordnung für Ärzte im Bereich der Privaten Krankenversicherung bis hin zur erdrückenden Bürokratielast. Dabei fehlt es insbesondere bei letzterem Thema nicht an konkreten Vorschlägen von Praktikern.

Punkt für Punkt Vorschläge für Bürokratieabbau

Was das Bundesgesundheitsministerium in Sachen Bürokratieabbau bislang nicht zustande gebracht hat, liegt inzwischen auf dem Tisch: Konkrete Vorschläge einer eigens gegründeten Task Force des Marburger Bundes. Punkt für Punkt wird in dem Katalog aufgezeigt, wie sich die Anzahl der Gesetze und Gesetzesänderungen, Richtlinien, Verordnungen und Ausführungsbestimmungen, die Detailregelungen, Abrechnungs- und Nachweispflichten auf ein vernünftiges Maß zurückführen ließen. Wie immer sich das Ministerium dazu stellen mag, eines ist klar: Nicht jede gesellschaftliche und gesundheitspolitische Innenreibung lässt sich durch Gesetze und Verordnungen lösen. Natürlich besteht die Gefahr, dass diese und weitere Vorschläge zur Bekämpfung der Bürokratitis im Behördendschungel untergehen. Schon früher hatten Versuche, Bürokratie abzubauen am Ende dazu geführt, dass immer noch etwas oben drauf gestapelt wurde, denn das Bürokratiemonster ergibt sich nicht ohne Gegenwehr. Deshalb sollte umgehend ein Verordnungsmoratorium verhängt werden. Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung und ein echter Beitrag zur Vertrauensbildung. Das Moratorium sollte für die nächsten zwei Jahre gelten und Ausnahmen dürfte es nur für den Fall einer neuen Pandemie geben. Während dieser Zeit muss entrümpelt werden: Mindestens die Hälfte aller alten Verordnungen streichen! Und danach müsste gelten: Ehe eine neue Vorgabe kommt, müssen zwei alte gestrichen werden.